Kultur pur samt einer Prise Kommerz
Eine ganze Kollektion von Museen, Parkspaziergänge
auf geschichtsträchtigem Boden, Japans ältesten
Zoo, Tempel und Schreine, einen Einkaufsbummel ungewöhnlicher
Art und nicht zuletzt einen Hauch des alten Edo - Ueno
hat nicht gerade wenig zu bieten! Für den Kunstenthusiasten
führt ohnehin kein Weg an Ueno vorbei. A propos Weg:
Museums-Liebhaber benötigen alleine für das Nationalmuseum
einen ganzen Tag.
Am besten beginnt man die Ueno-Erkundung mit einem Rundgang
durch den Ueno-Park (Ueno-koen). Gegenüber des Ueno-Bahnhofs
liegt die Bunka-kaikan, auf deren Programm Opern- und Konzertaufführungen
stehen. Gleich daneben beeindruckt der Bau des Nationalmuseums
für westliche Kunst (Kokuritsu-seiyo-bijutsukan),
1959 nach Plänen von Le Corbusier errichtet. Die Plastiken
im Vorhof sind echte Rodins; Kojiro Matsukata, ein reicher
Geschäftsmann und Liebhaber der Künste, hat sie
- neben vielen anderen Stücken - zu Beginn dieses
Jahrhunderts zusammengetragen. Bilder aus Matsukatas Sammlung
- hauptsächlich französische Impressionisten
- dominieren die Ausstellungsstücke des Museums. Im
daran anschließenden Museum für Naturwissenschaften
(Kokuritsu-kagaku-hakubutsukan) lassen sich prähistorische
Dinosaurierskelette ebenso bestaunen wie die neuesten Errungenschaften
der Weltraumforschung. Hauptanziehungspunkt ist jedoch
das Nationalmuseum (Tokyo-kokuritsu-hakubutsukan) mit über
90000 asiatischen Kunstgegenständen (von denen einige
als Nationalschätze klassifiziert sind) das größte
Museum Japans und die umfassendste Kollektion asiatischer
Kunst auf der ganzen Welt. Das Hauptgebäude (honkan),
1881 erbaut und beim Erdbeben 1923 zerstört, wurde
1937 wiederaufgebaut. In insgesamt 25 Räumen beherbergt
es im Erdgeschoß Skulpturen, Metallarbeiten, Waffen,
Textilien und Keramiken, im Obergeschoß Gemälde,
Drucke, Kalligraphien und Lackwaren. Um dem Publikum wenigstens
einen Teil der Sammlung vorstellen zu können (und
auch mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit mancher
Objekte), werden die Exponate sieben- bis achtmal im Jahr
ausgewechselt. Zweimal jährlich (April/Mai und Oktober/November)
werden Sonderausstellun-gen gezeigt.
Hinter der Haupthalle gruppieren sich in einem (nicht zugänglichen)
japanischen Landschaftsgarten mehrere Gebäude, darunter
ein Teehaus aus dem 17. Jh. und ein Pavillon.
Die neobarocke Fassade der Hyokeikan, des Bauwerks zur
Linken des Hauptgebäudes, ist dem Pavillon der Pariser
Weltausstellung von 1900 nachempfunden. 1909 eröffnet,
birgt sie archäologische Funde aus Japan. Von besonderer
Faszination sind die Haniwa, Grabbeigaben in Form von tönernen
Menschen, Tieren, Booten und Häusern aus der Zeit
der Kofun-Hügelgräber (3.-7. Jh.) . Im Toyokan,
dem rechten Nebengebäude, sind Kunstobjekte aus anderen
asiatischen Ländern zu besichtigen; hier werden in
der Regel zweimal im Jahr Sonderausstellungen von ausländischen
Leihgaben veranstaltet.
Nur donnerstags - und auch das nurbei schönem Wetter
- ist die Horyu-ji-homotsukan, die "Galerie der Schätze
des Horyu-Tempels" in Nara, geöffnet; sie liegt
südwestlich der Haupthalle. Der Horyu-ji, Anfang des
7.Jhs. gegründet und ältester buddhistischer
Tempel Japans, schenkte dem kaiserlichen Haushalt 319 seiner
Kunstschätze. Seit 1964 sind die Rollbilder, Masken,
Metallarbeiten und das Mobiliar, im wesentlichen aus dem
7. und 8.Jh. und damit wichtige Zeugnisse einer Epoche
reger kultureller Kontakte mit China und Korea, hier ausgestellt.
Die Gebäude des Nationalmuseums liegen alle auf dem
ehemaligen Gelände des Kanei-Tempels (Kanei-ji). Die
gesamte Anlage umfaßte einst fast 120ha, auf denen
sich eine prunkvolle Haupthalle, 36 Nebentempel und noch
einmal soviele Nebenbauten erhoben. Gründer war der
Abt Tenkai, geboren 1536, der das stattliche Alter von
107 Jahren erreicht haben soll. 1624 beauftragte ihn der
zweite Tokugawa-Shogun Hidetada, auf den Hügeln von
Ueno einen Tempel zu errichten, als Schutzmaßnahme
gegen das unfreundliche Walten überirdischer Mächte
sozusagen, denn Ueno lag in Unglück verheißender
Nord-Ost-Richtung zur neuen Hauptstadt Edo. Der ehrgeizige
Tenkai hatte es sich zum Ziel gesetzt, mit dem Kanei-ji
den berühmten Hieizan-Tempel in Kyoto an Bedeutung
zu übertreffen. Es mag ihm gelungen sein, doch vom
alten Glanz ist kaum noch etwas zu erahnen: Weit hinter
dem Nationalmuseum, in Richtung Bahnhof Uguisudani, steht
heute ein Tempel mit Namen Kanei-ji, dessen Haupthalle
1879 aus der Stadt Kawagoe hierhergebracht wurde. Die meisten
Gebäude des ursprünglichen Tempels waren bei
den Unruhen des Jahres 1868 ein Opfer der Flammen geworden.
Die Mausoleen einiger Tokugawa-Shogune auf den angrenzenden
drei Friedhöfen blieben damals verschont, wurden aber
bei den amerikanischen Luftangriffen 1945 zerstört.
Spaziert man Richtung Süden, kommt man zum Eingang
des Ueno-Zoos (Tokyo-to-onshi-ueno-dobutsu-en), der 1882
seine Pforten öffnete. Hauptattraktion sind die Riesen-Pandas,
deren Fortpflanzungsbemühungen die japanische Öffentlichkeit
mit regem Interesse verfolgt. Die Anteilnahme am Nachwuchs
reflektiert die schier endlose Besucherschlange vor dem
Pandagehege gleich rechts neben dem Eingang. Der Zoo ist
zweigeteilt, beide Teile sind durch eine Schwebebahn und
eine Fußgängerbrücke miteinander verbunden.
Bevor man sich jedoch dem südlichen Teil am Shinubazu-See
(s.S.52) mit dem Aqua-Zoo zuwendet, werfe man einen Blick
auf die Pagode hinter dem Bison-Gehege: Sie gehörte
einst zum Kanei-ji, wurde 1631 errichtet, acht Jahre später
bei einem Brand zerstört und kurz darauf wiederaufgebaut
- eine von drei Pagoden aus der ersten Hälfte des
17. Jhs., die heute noch erhalten sind.
Nicht weit entfernt, aber vom Zoogelände aus nicht
zugänglich, liegt der Tosho-Schrein (Tosho-gu). Er
kann sich mit der berühmten gleichnamigen Anlage in
Nikko nicht messen. Doch zeigt er, 1627 zur Erinnerung
an Tokugawa Ieyasu errichtet, die geschmacklichen Vorlieben
der ersten Tokugawa-Shogune: leuchtende Rot- und Goldtöne, üppige
Wandmalereien und Schnitzwerk. Leider hat der Zahn der
Zeit unübersehbar am Tosho-gu genagt. Sehr schön
ist die Eingangsallee, gesäumt von zahllosen Stein-
und Bronzelaternen.
Südlich des Schreins bietet das Seiyoken-Restaurant
seit 1873 westliche Küche an. Der nahe "Glockenturm
von Ueno" aus dem Jahr 1666 verkündet täglich
die Mittagsstunde. Noch etwas weiter südlich trifft
man auf den Kiyomizu-Tempel (Kiyomizu-do). Abt Tenkai ließ die
Tempelhalle 1631 erbauen, 1698 wurde sie an ihren heutigen
Standort verbracht - eines der wenigen Gebäude des
ehemaligen Kanei-ji, das die Feuersbrünste von 1868 überstand.
Der Altar an der linken Seite der Halle ist Kannon, der
Gottheit der Barmherzigkeit, gewidmet. Gnädig ist
sie ganz besonders auch Kindern, was sich an den Altargaben
ablesen läßt; dankbare Eltern, deren Gebete
erhört wurden, haben Unmengen von Puppen verschiedenster
Größe und Herkunft gespendet. Zur Rechten der
Gottheit sitzen die blondgelockten westlichen Puppenkinder,
zur Linken die japanischen. Einmal im Jahr (25.September)
werden die Puppen in einer feierlichen *Zeremonie verbrannt.
Am Ende des Ueno-Parks, den man über eine breite Treppenflucht
verläßt, erinnert eine Bronzestatue an Saigo
Takamori, den Führer der kaiserlichen Truppen in den
Kämpfen gegen die Shogunatsregierung 1868. Den Anhängern
des Shogunats wurde gleich daneben ein Denkmal errichtet.
Beide erinnern daran, daß der heute so friedliche
Park - 1878 wurde er zur öffentlichen Anlage umgestaltet
und gleicht besonders zur Kirschblütenzeit eher einem
riesigen Picknick-Platz - noch ein heiß umkämpftes
Schlachtfeld war, als das Shogunat sich längst ergeben
hatte. An seinem Sieg konnte Saigo Takamori sich nicht
lange erfreuen. Er erlitt bei einem der folgenden Aufstände,
diesmal auf Seiten der Rebellen, eine Niederlage und beging
Seppuku, rituellen Selbstmord.
Den südwestlichen Teil des Ueno-Parks beherrscht der
Shinubazu-See. Hier ist der Aqua-Zoo angesiedelt. Auf einer
künstlichen Insel im See ist ein Tempel Benten, der
Schutzgottheit der Kunst, zuständig auch für
Schönheit, Glück und Liebe, gewidmet. Die Gründung
auch dieses Tempels geht auf den geschäftigen Abt
Tenkai zurück. Von einer Halle des Kiyomizu-do aus
soller auf den See geblickt haben (den Rest einer ehemaligen
Lagune), der ihn an den großen Biwa-See in der Nähe
von Kyoto erinnerte - es fehlte ihm lediglich eine künstliche
Insel mit einem Benten-Heiligtum. Später wurde die
Insel durch einen Damm mit dem Ufer verbunden, Teehäuser öffneten
ihre Pforten. Nicht nur Tee konnte man hier genießen,
Raum gab es auch für romantische Schäferstündchen.
1884 mußten die Liebesherbergen der Edo-Zeit kurzfristig
einer Pferderennbahn weichen, die den gesamten Teich umrundete.
Sie war wohl kein voller Erfolg, denn schon nach neun Jahren
wurde der Rennbetrieb wiedereingestellt. Während des
Zweiten Weltkriegs wurde der See gar zu einem Reisfeld
umfunktioniert.
Das Shitamachi-Museum am südöstlichen Ufer des
Shinobazu-Sees hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung
an das alte Shitamachi wachzuhalten. Das kleine, überschaubare
und ungemein anschauliche Museum sollte man auf keinen
Fall versäumen. Ein Besuch im Shitamachi-Museum beflügelt
die Vorstellungskraft ganz ungemein.
Ist nach soviel Kunst und Kultur jetzt Abwechslung gefragt,
dann dürften Ameya Yokocho und das angrenzende Okachimachi,
Billig-Einkaufsparadiese unter den und seitlich der Yamanote-Gleise
zwischen Ueno und Okachimachi, genau das Richtige sein.
Wer zur Klaustrophobie neigt, sei gewarnt: Das Gedränge
ist bisweilen ganz fürchterlich! Anders als sonstige
Marktviertel Tokios haben Okachimachi und Ameyoko - so
das geläufige Kürzel - noch keine lange, geschweige
denn ehrenwerte Geschichte. Sie sind die Überbleibsel
eines blühenden Schwarzhandels der Nachkriegsjahre.
Selbst heute noch, so munkelt man, stammt manche Ware aus
dunklen Quellen. Handeln ist hier übrigens erlaubt,
jedoch nicht immer von Erfolg gekrönt.
Der Nimmermüde - aber wirklich nur er - kann noch
einen kleinen Fußmarsch zum Schrein Yushima-tenjin
anschließen, quer durch das ehemalige Shitamachi-Gebiet.
Als Edo noch ein Fischerdorf war, errichteten die Bauern
aus dem benachbarten Yushima dem Gott des Lernens den Schrein
in luftiger Höhe eines Hügels, von dem aus man
bis auf das Meer hinausblicken konnte. Den Hügel hinauf
(an seinem Fuß liegt der kleine Shinjo-Tempel) führt
eine steile Treppe, männlichen Tempelgängern
zugedacht. Für die Damenwelt gibt es eine sanft ansteigende
Treppenflucht. Auf dem Schreingelände steht ein Maigo-ishi-Stein,
ein Stein für verlorengegangene Kinder. Drei dieser
Steine gab es früher in Edo, an denen verzweifelte
Eltern Suchmeldungen befestigen konnten. Moderne Eltern
haben anderes im Sinn, wenn sie den Schrein aufsuchen:
Sie beten darum, daß der Nachwuchs die Aufnahmeprüfung
an einer Elite-Universität oder an einem Elite-Kindergarten
bestehen möge. Bis aufs Meer kann der Blick heute
nicht mehr schweifen; bald werden immer höhere Neubauten
selbst die Aussicht auf den Ueno-Park verstellt haben.
Shitamachi: Ein Hauch des alten Edo
Bis zum Erdbeben von 1923 waren in Ueno und Asakusa noch
große Teile von Shitamachi erhalten, dem edozeitlichen
Stadtviertel der Händler und Handwerker. Heute hat
man Mühe, seine Spuren zu finden.
Wenn man die breiten Straßen meidet und seitlich
durch die Gassen schlendert, wenn man die Phantasie walten
läßt, dann kann einem folgendes widerfahren:
Man biegt um die Ecke und da stehen sie - drei kleine Holzhäuschen
eng aneinandergeduckt, gedeckt mit mattgrauen Ziegeln. Über
die Bonsai-Bäumchen im winzigen Vorgarten beugt sich
ein alter Mann im Yukata (Baumwollkimono). Sorgfältig
begießt er Pflanze um Pflanze. So und nicht anders
war es auch im alten Edo, die Zeit scheint stehengeblieben...
Knatternd nähert sich ein Motorrad, aus dem Radio
dringt plärrend Schlagermusik. Der Bann ist gebrochen,
die Gegenwart hat uns wieder. Eine Garantie auf Erlebnisse
dieser Art gibt es nicht: Nahezu jeden Tag räumt eines
der letzten Shitamachi-Häuser seinen Platz für
einen seelenlosen Neubau.
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