Die Wiege der Edo-Kultur
Ein Mini-Cosmos - der Senso-ji und seine direkte Umgebung
bieten der Phantasie ausreichend Nahrung für eine
kleine Reise in die Vergangenheit der Hauptstadt. Dieser
Teil von Shitamachi ist ein ”Biotop für Edo-Visionen”.
Der Legende nach fanden 628 zwei Brüder beim Fischen
im Sumida-Fluß eine kleine bronzene Statue von Kannon,
der Göttin der Barmherzigkeit. Sie warfen sie zurück
ins Wasser, doch dreimal verfing sie sich erneut in ihren
Netzen. Schließlich brachten sie sie in ihr Dorf,
wo ihr Herr den Senso-Tempel (s. unten) zu Ehren der Kannon-Statue
baute, der schnell populär wurde. Mit der Verlegung
des Vergnügungsviertels Yoshiwara 1657 und der Kabuki-Theater
1841 entwickelte sich aus dem ehemaligen Fischerdorf ein
Stadtteil Edos mit pulsierendem Leben und eigener Ausstrahlung.
Hier wohnten Schauspieler, Maler, Kunsthandwerker und Kurtisanen.
Reiche Kaufleute waren ihnen gefolgt, um am aufblühenden
Handel teilzuhaben. Shitamachi, wie der Stadtteil hieß,
wurde mit seiner Mischung aus Religion, Kommerz und Vergnügen
auch zur Attraktion für die Bewohner des übrigen
Edo. Vieles, was sich mit der Edo-Kultur verbindet, hat
hier seinen Ursprung. Hiroshige hat die Stimmung jener
Zeit in seinen Holzschnitten meisterhaft eingefangen. Originale
und Nachdrucke in allen Preislagen erhält man in zahlreichen
Galerien Tokios.
Senso-Tempel (Senso-ji) ((45)). Wer den
Kontakt zur japanischen Bevölkerung sucht, sollte
den Tempel der Kannon am Wochenende besuchen. Den Tempelbezirk
betritt man durch
das Furaiji-mon, das ‚Tor des Wind- und Donnergottes’.
Beide Götter stehen respekteinflößend als
hölzerne Tempelwächter links und rechts des Tores.
Der Windgott trägt einen dicken Sack über den
Schultern, in dem er die gefährlichen Stürme
gefangenhält, der Donnergott schwingt zwei Trommelschläger.
Der Volksmund nennt das Tor auch Kaminari-mon, nach einem
anderen Wort für den Donnergott. Kaminari stand auch
Pate für eine beliebte Süßigkeit, die im
Tempel verkauft wird: Die "Donnercracker" (kaminari-okoshi)
sind eine Art Popcorn, mit Sirup überzogen.
Am Furaiji-mon läßt der Besucher das moderne
Tokio hinter sich und taucht in die Atmosphäre des
alten Edo ein. Naka-mise, die Straße, die auf den
Tempel zuführt, ist in ihrer Farbigkeit einzigartig
in Tokio. Viele der Geschäfte in den Ladenarkaden
sind schon seit der Edo-Zeit in Familienbesitz. Wer auf
der Suche nach einem Souvenir ist, hier wird er es finden.
In reicher Auswahl gibt es alles, was zur traditionellen
Kleidung der Japaner gehört: prächtige Kimonos
und einfache Yukata (Baumwollkimonos) mit passendem Obi
(Gürtel), Fächer, Perücken und Kopfschmuck.
Mehrere Geschäfte auf der linken Seite, etwa auf halbem
Wege zum Tempel, bieten kleine, handgeschnitzte Figuren
(Netsuke) aus Elfenbein (Einfuhr in Europa verboten!) und
Knochen an; Netsuke-Schnitzerei ist eine alte japanische
Kunst. Mittels dieser Miniaturfiguren befestigte man früher
Kordeln, an denen Tabakbeutel o.ä. hingen, am Gürtel.
Der allerletzte Laden auf der rechten Seite hat sich auf
Spielzeugfiguren spezialisiert, die Szenen aus der Edo-Zeit
darstellen und nach alten Vorlagen gearbeitet werden.
Das große Tor zum Vorplatz der Haupthalle heißt
Hozo-mon, "Schatztor"; es beherbergt wertvolle
Sutren. Auch hier wachen wieder zwei überlebensgroße
Götter rechts und links des Tores. Der eine atmet
mit geöffnetem Mund ein, der andere mit fast geschlossenem
Mund aus. A-um wird das Paar genannt, lautmalerisch für
ein- und ausatmen; es symbolisiert Gegensätze, die
aufeinander abgestimmt eine Einheit bilden. An der Rückseite
des Tores prangen zwei überdimensionale Reisstrohsandalen,
das traditionelle Schuhwerk der einfachen Bevölkerung
und der Pilger.
Auf dem Vorplatz der Haupthalle herrscht reges Treiben.
Zahllose Tauben schwirren herum, heilige Boten der Kannon.
Zur Freude der Kinder wird Vogelfutter verkauft. Besonderes
Vergnügen bereitet den Japanern ein Blick in die Zukunft.
Für 50Yen ziehen sie einen Holzstab mit einer Zahl
aus einer Dose und finden in einer entsprechend gekennzeichneten
Schublade einen Zettel, der ihnen Auskunft über ihr
Schicksal gibt. Gefällt ihnen nicht, was sie lesen,
lassen sie den Zettel im Tempelbereich zurück und
die Voraussage wird unwirksam. Eine große Steinlaterne
dokumentiert die enge Verbindung zwischen Religion und
Vergnügen: Sie wurde von der Vereinigung der Geishas
von Shimbashi dem Tempel gestiftet; die Namen der Spenderinnen
sind darauf zu lesen.
Vor den Stufen zur Haupthalle, die in ihrer heutigen Form
1958 erbaut wurde, steigen Weihrauchwolken aus einem Bronzegefäß auf.
Jung und alt scharen sich darum und bestreichen sich mit
einer Handvoll Rauch, der eine heilende Wirkung auf Körper
und Geist haben soll. Rechts neben dem Weihrauchgefäß steht
ein Brunnen, an dem sich die Gläubigen Mund und Hände
reinigen, bevor sie den Tempel betreten. Auf den vielen
schwarzweißen Aufklebern am Brunnenhaus stehen Namen
von Pilgern. Drinnen drängen sich die Menschen vor
dem Allerheiligsten zum Gebet. Die Wünsche an die
Göttin der Barmherzigkeit werden mit einem kleinen
Geldopfer unterstützt.
Für Japan nicht ungewöhnlich, steht neben der
Haupthalle des buddhistischen Tempels der shintoistische
Asakusa-jinja ((46)), der ‚Schrein der heiligen Männer’,
im Volksmund auch Sanja-sama genannt. Tokugawa Iemitsu
ließ ihn 1649 zu Ehren der beiden Fischer und ihres
Herrn erbauen, denen die Gründung des Tempels zu verdanken
ist. Der Schrein hat Erdbeben und Kriege überstanden
und ist in seiner ursprünglichen Form erhalten. Nach
shintoistischem Brauch klatschen die Menschen vor ihrem
Gebet in die Hände.
Auf dem Gelände stehen noch einige kleinere Tempel.
Die steinerne Brücke von 1618 gilt als die älteste
erhaltene Tokios.
Ein wohltuender Kontrast zum geräuschvollen Treiben
auf dem Tempelvorplatz ist die meditative Stille des Landschaftsgartens
Denbo-in((47)). Hier wohnt der Abt des Tempels.Wahrscheinlich
wurde der Garten im frühen 17.Jh. vom bekannten Landschaftsgärtner
und Meister der Teezeremonie Kotobori Enshu gestaltet.
Im Teich schwimmen Karpfen, auf den Steinen sonnen sich
Schildkröten. Bäume und Sträucher säumen
das Ufer. Besonders hübsch wirkt von hier aus die
fünfstöckige Pagode; im Krieg völlig zerstört,
wurde sie erst 1973 wiederaufgebaut. Der Garten ist nur
mit Sondergenehmigung zugänglich; dazu frage man persönlich
im Tempelbüro an der Pagode nach (#ö# tägl.
außer sonn- und feiertags 9-15 Uhr).
Der Asakusa-Kannon-Tempel gehört zu den populärsten
Tempeln der Hauptstadt. Und das Sanja-matsuri des benachbarten
Asakusa-jinja ist eines der drei größten Feste
Tokios. Es wird drei bis vier Tage lang gefeiert, letzter
Tag ist der dritte Sonntag im Mai. Vom Platz hinter dem
Tempel aus werden Mikoshi, kleine, tragbare Schreine, von
traditionell gekleideten Männern und Frauen unter
rhythmischen Rufen und Gesängen durch den Bezirk getragen.
Auch Geishas nehmen an der großen Parade teil. Nirgendwo
sonst sieht man so viele junge Männer, die stolz ihre
Irezumi, Tätowierungen, zeigen.
Ein Spaziergang durch Asakusa lohnt sich: In den verwinkelten
Sträßchen und Gassen abseits der Hauptstraßen
scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, der Geist des
alten Edo wird wieder lebendig. Ein lohnendes Ziel lockt
westlich des Tempels, die Kappabashi-dori. Entlang dieser
Straße haben sich die Geschäfte auf den Verkauf
von Küchengeräten und Utensilien für Profiküchen
und Restaurants spezialisiert. Und hier wird auch das „Plastikessen“ verkauft,
das man im Schaufenster vieler Restaurants sieht. Farbenfroh
und täuschend echt lacht einen ein Tablett mit köstlichem
Sushi an, knackig frischer Salat, ein Teller Soba-Nudelsuppe
oder ein Glas Bier, kurz alles, was eß- oder trinkbar
ist. Kappabashi bietet echtes Lokalkolorit, ist eine Fundgrube
für Fotografen und Souvenirjäger. Die Traditon
der nachgemachten Speisen reicht bis in die Meiji-Zeit
zurück. Als nach der Öffnung Japans zunehmend
Ausländer rätselnd vor den japanischen Speisekarten
standen, ersetzten clevere Wirte diese durch Schaustücke.
Eine echte Hilfe für Touristen - auch heute noch.
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