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Tokio ist anders anders |
Am Reizwort Tokio scheiden sich die Geister:
Für die einen ist es ein seelenloser Moloch, laut und
hektisch, ein chaotisches Menschengewimmel, total verwestlicht,
voller architektonischer Sündenfälle, unübersichtlich,
kalt, abweisend, überteuert in jeder Hinsicht, lärmend,
steril. Für die anderen ist es eine der interessantesten
Städte der Welt, voller verblüffender Gegensätze,
anregend und mitreißend, übersät mit Oasen
der Stille, kulturdurchdrungen, den Geist des alten Japan
atmend.
Die Wahrheit - nein, sie liegt nicht in der Mitte. Und das
macht vielleicht die Faszination der Metropole aus. Jedes
Klischee, jedes Vorurteil läßt sich bestätigen
- und widerlegen. Tokio ist, hat, bietet nahezu alles: Tradition
und Supermodernes, Stille und Hektik, Exotisches und nur
allzu Vertrautes, Wärme und Kälte, Preiswertes
und Unbezahlbares. Was also ist die Wahrheit über Tokio?
Ganz einfach: Jeder wird ein anderes Bild der Hauptstadt
mit nach Hause nehmen, eines so richtig und doch so unvollständig
wie das andere. Sicher ist aber auf jeden Fall: Tokio, ob
man es liebt oder verdammt, ist eine Stadt, die unvergeßlich
bleibt.
Ein wenig Abenteuerlust und eine Portion Touristenmut gehört
jedoch dazu: Wer sich von den unbekannten Schriftzeichen
einschüchtern läßt, wer sich vor den Menschenmassen
fürchtet und sich nur im und in der Nähe seines
Hotels umschaut, der kann die Geheimnisse dieser Stadt nicht
lüften, ihre Reize nicht aufspüren. Wer sich jedoch
der “Herausforderung Tokio” stellt, der wird
mit Erlebnissen belohnt und mit Erkenntnissen überhäuft,
die den bekannten amerikanischen Japanologen Edward Seidensticker
zur Einsicht brachten: Tokyo is different with a difference.
Zu Deutsch etwa: Tokio ist anders anders.
Puristen trennen die Stadt in zwei Bereiche: Shitamachi,
die Unterstadt, und Yamanote, die Oberstadt. Die Unterteilung
ist nicht nur topographischer Natur, sie trennt Charakterwelten.
Shitamachi, die heutigen Stadtbezirke Asakusa und Ueno im
Nordosten Tokios, beherbergt die Überreste der Stadtkultur
aus der Edo-Zeit (1600-1868). Dabei entstand es später
als Yamanote, die städtische Ansiedlung, die sich im
frühen 17.Jh. um die Burg von Edo herausgebildet hatte;
im Nordosten, der in Asien traditionell als Unglück
verheißende Himmelsrichtung betrachtet wird, hatten
die Tokugawa-Shogune lediglich einen buddhistischen Tempel
eines Fischerdorfes ausbauen lassen, um das aus dieser Richtung
drohende Unheil von der Hauptstadt abzuhalten.
Die Geburtsstunde Shitamachis schlug dann 1657 mit der Entscheidung
der Shogunats-Regierung, das Vergnügen aus Yamanote
zu verbannen: Teehäuser, Theater und Bordelle wurden
per Dekret nach Shitamachi umgesiedelt. Aus dem ehemaligen
Fischerdorf entstanden die heutigen Stadtbezirke Asakusa
und Ueno, die Welt der Schauspieler und Kurtisanen, der Handwerker
und Künstler, in den Ukiyo-e-Holzschnitten, den „Bildern
der fließenden Welt“, verewigt.
Architektur - soweit noch vorhanden - und Habitus der Bewohner
spiegeln in Shitamachi noch den Geist der Edo-Kultur wider:
Geradeaus, handfest, offen und unprätentiös, das
sind die Eigenschaften der wahren Edokko, der waschechten
Tokioter. Wer in Yamanote zu Hause ist, verkörpert den „modernen“ Hauptstädter:
effizient und zugeknöpft.
Doch heutzutage sind die Übergänge fließend.
Seit Beginn der Meiji-Zeit, vor mehr als hundert Jahren,
ist die Zahl der „Zugereisten“ enorm gestiegen.
Die typischen Edokko sind in der Masse der Städter nur
schwer auszumachen. Auch sie tragen heute Anzug und Krawatte
und pendeln von ihren Wohnungen in Shitamachi in die Büros
der Innenstadt. Bei einem Spaziergang durch Asakusa und Ueno
jedoch wird der Geist des alten Edo in den verwinkelten Sträßchen
und Gassen auch heute noch spürbar.
Wer in Tokio jedoch nach Drei-Sterne-Sehenswürdigkeiten
der europäischen Art sucht, wird vielleicht enttäuscht
werden. Das große Erdbeben von 1923, die Brandbombenangriffe
von 1945 und der ungebremste Modernisierungsdrang der Hauptstädter
hat wenig an alter Substanz übrig gelassen. Wem es jedoch
gelingt, sich von einem allzu starren Kunstbegriff zu lösen,
wer der Fähigkeit der Japaner nacheifert, künstlerische
Andeutungen auch als Anregung zu begreifen und das Werk in
seiner eigenen Vorstellung zu ergänzen, wer wie Japaner
in der Lage ist, Störendes (wie Hochspannungsmasten,
Abfallhaufen etc.) einfach „auszublenden“, nicht
zu sehen, der wird in Tokio vieles entdecken, was kein Reiseführer
auch nur ansatzweise aufführen kann. Das künstlerische
und kulturelle Erbe manifestiert sich nicht zuletzt in den
zahllosen Kleinigkeiten, die einem beim Streifzug durch Tokio
begegnen: Der namenlose winzige Schrein am Rande einer lärmenden
Geschäftsstraße, das Blumengesteck in einem Schaufenster,
die selbst in Neon-Verfremdung noch eleganten Kanji-Schriftzüge
der Leuchtreklame... Wer die Augen offenhält, wird die
Aufzählung mühelos fortzusetzen können. |
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